o.T. (Sinneshorizont No 40), 14,5 x 21 cm, Graphit auf Papier, 2012
Mit diesen 42 Papierarbeiten aus dem Jahr 2012 untersucht die Berliner Künstlerin Lucia Fischer das Phänomen der Linie. Den Punkt in seinem Wesen transformierend setzt sie den Graphitstift an und lässt ihn auf einem Papier eine Linie ziehen. Diese Linie nimmt ihren Weg in ihrer jeweils eigenen Dynamik; in Wellenbewegungen, mal zart und mit wenig Druck gesetzt, mal kraftvoll bestimmt, abwechselnd in unterschiedlichen Schwüngen, Zacken, Kreisen und Überschneidungen, schroff und fein, mal eng, mal weitläufig, mal dicker und dünner. Die Bewegung startet an einem Punkt auf dem Papier, in der Regel im linken Teil des Blattes, schlägt eine Art Schleife und bewegt sich dann nach rechts oder links, keiner bestimmten Maßgabe folgend, außer der, die sich im Laufe der Bewegung aus sich selbst heraus ergibt.
Was ist zu sehen? Wie aus dem Nichts erscheinend und wieder ins Nichts ausklingend, erlauben sie viele unterschiedliche Assoziationen. Mal erinnern sie an einen diffusen Horizont oder auch an Erinnerungen, wie z.B. der, wie eine Ente in einem stillen See ihre Bahn zieht und nur das bewegende Wasser ihre Bewegung sichtbar macht. Auch erinnern einige der Linien an eine diagrammartige Darstellung eines in seiner Weise einmaligen Geschehens; vielleicht an die Messung von Herzschlägen, von Hinströmen oder an eine seismografische Messung, die Erschütterungen (auf-) zeichnet.
Was auch immer an Assoziationen aufkommen: was als Tatsache bleibt, ist die Visualisierung und Dokumentation eines Prozesses.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel benennt ein Beispiel einer Pflanze. Sie ist erst Same, dann ist sie Blüte und schließlich Frucht. Die Knospe verschwindet in der Blüte und die Blüte wird zur Frucht. Die Formen verdrängen sich gegenseitig und schließen sich aus, wobei aber ihre flüssige Natur (der Prozess) die Pflanze zeitweise zu einer organischen Einheit in all ihren Stufen macht. Jede Phase hat ihren eigenen Prozess und ihren eigenen Ausdruck. Das eine bedingt das andere. Alles im Allem gesehen ist jeder einzelne Ausdruck wahr – gleichzeitig aber auch das Ganze. Das eine hebt das andere auf, in dem es nicht auslöscht, sondern bewahrt und in einer anderen - nach Hegels Auffassung - höheren Stufe bringt. Im Ganzen und im Einzelnen ist so alles enthalten. Das nennt er das vollständige Pflanze-Sein. Ebenso beim Menschen; Kind, Erwachsener, Greis. Alle Stufen zusammen genommen heißt Mensch-Sein. Das ist für Hegel die Dynamik der Wirklichkeit, die Struktur der lebendigen Natur.
Wendet man diese Idee auf die Gesamtheit der Werke von Lucia Fischer an, so wäre jede einzelne Linie eine Repräsentantin eines mannigfaltigen, menschlichen Geschehens, das jeweils von dem nächsten Geschehen verdrängt wird. Alle Linien zusammen wären so ein Zeugnis menschlicher Dynamik und könnten so als Hommage an den Zyklus menschlichen Lebens gelesen werden.
Der leere Stuhl in der Mitte des Raumes, der Bestandteil des eigentlichen (Wohn-)Zimmers ist - in dem nun die Ausstellung stattfindet - verbleibt als Sinnträger menschlicher Intimsphäre mit seiner stummen Geschichte zentral im Raum. Er nimmt mit seinem Standort Bezug auf die quadratische Anordnung der Neonröhren- Beleuchtung über ihm, die speziell für die temporäre Öffnung dieses Raumes als Kunst-Ort installiert ist.
Die Neonröhren können stumme Zeugen dafür sein, alles zu jeder Zeit ins Licht, ins Erklärbare bringen zu wollen. Auf ihm Platz genommen können die feinen Linien der Werke an den Wänden nicht erkannt werden. Um diese genau zu studieren, muss der Körper in Bewegung kommen; aufstehen und aus dem künstlichen Lichtquadrat heraustreten.
Mit dieser Zusammenstellung, Werk, Stuhl und Raum überlässt uns die Künstlerin der Stille des Raumes. Sie läd uns ein, zuerst in dem Raum auf dem Stuhl platz zu nehmen und zu reflektieren, was wir sehen. Können wir etwas erkennen? Was passiert wenn wir still, alleine, ohne weitere Handlungsvorgaben, in diesem Raum sind? Vielleicht erinnern wir uns (wieder) daran, dass unser ganz individuelles, eigene Bild einer Welt aus unseren körperlichen Sinnen erbaut und erwächst: Der eigene Horizont.
Und dieser eigene Horizont entsteht jetzt, hier. Nicht gestern, nicht morgen.